Die Pisa-Studie offenbart eine hohe Zahl funktionaler Analphabeten unter den Schulabgängern – inakzeptabel für eins der teuersten Schulsysteme der Welt, sagen Experten
Zürich Ein reich verziertes Gästezimmer in einem Schloss. Türen rechts und links, in der Mitte das Wohnzimmer. Drei Männer im Smoking betreten die Bühne und unterhalten sich darüber, wie schwierig es sei, ein Theaterstück zu beginnen. «Teuflisch schwer», sagt der Mann, der Turai heisst. «Es vergeht eine Ewigkeit, manchmal eine ganze Viertelstunde, bis die Zuschauer herausfinden, wer wer ist und wer was im Schilde führt.»
Der Text leitet eine Aufgabe des internationalen Pisa-Schülertests ein. Getestet wird die Lesefähigkeit der 15-jährigen Prüflinge. Aufgabe: Warum ist laut Turai eine Viertelstunde «eine Ewigkeit»? Die Schüler müssen die richtige Multiple-Choice-Antwort ankreuzen. Zur Auswahl stehen: A. Es dauert zu lange, bis das Publikum in einem voll besetzten Theatersaal ruhig ist. – B. Es scheint ewig zu dauern, bis am Anfang des Theaterstücks die Situation geklärt ist. – C. Es scheint für einen Dramatiker immer sehr lange zu dauern, den Anfang eines Theaterstücks zu schreiben. – D. Es scheint, dass die Zeit viel langsamer vergeht, wenn in einem Theaterstück etwas wirklich Bedeutendes geschieht.
Der Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe entspricht der Kompetenzstufe 2 – die magische Grenze auf der sechstufigen Pisa-Skala: Wer darunter liegt, gehört zu den funktionalen Analphabeten. Diese Schüler können zwar lesen, aber sie verstehen nicht, was sie gelesen haben.
Ob 14 oder 20 Prozent: Zu viel ist es auf jeden Fall
Rund 6000 Schüler aus der Schweiz haben für den aktuellen Pisa-Test 2015 der OECD ihre Fragebögen ausgefüllt. Das neue Länderranking, das am letzten Dienstag vorgestellt wurde, sorgte bei Schweizer Bildungsexperten für Katerstimmung: Die 15-jährigen Schweizer Schulabgänger erreichten beim Lesen nur knapp den OECD-Durchschnitt. Besonders ernüchternd: 20 Prozent der hiesigen Schüler sind nach neun Schuljahren funktionale Analphabeten – also jeder fünfte. 24 Prozent der Buben gehören laut Pisa-Ergebnis zu dieser Gruppe, bei den Mädchen sind es 15 Prozent.
Seit die neue OECD-Schulleistungsstudie erschienen ist, wird in der Schweiz heftig debattiert, wie repräsentativ die getestete Schüler-Stichprobe ist. Der Anteil der fremdsprachigen Jugendlichen, sagen die Kritiker, sei mit 31 Prozent zu hoch. Das habe die Ergebnisse verzerrt. Der vorherige Pisa-Test 2012 habe den Anteil der Lesebanausen tiefer ausgewiesen. Damals erzielten 14 Prozent der Schweizer Prüflinge ein Ergebnis unter der Kompetenzstufe 2 – also jeder siebte. Unstrittig und wichtiger als das Stichproben-Gezänk ist für die Schweiz: Ein Analphabeten-Anteil von 14 bis 20 Prozent ist schlicht nicht akzeptabel. «Bei einer durchschnittlichen Klassengrösse von 19 Schülern können in der Schweiz bei Schulabschluss zwei bis drei Schüler pro Klasse unzureichend schreiben und lesen», hat Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, das Ergebnis auf die einzelnen Schulklassen umgerechnet.
Und das, obwohl sich die Schweiz das zweitteuerste Schulsystem innerhalb der OECD leistet. Laut internationaler Statistik gibt die Schweiz für einen Primarschüler pro Jahr umgerechnet 15 930 Dollar aus, für einen Sekundarschüler 19 698 Dollar – nur Luxemburg investiert noch mehr.
Analphabeten hängen auch in anderen Fächern komplett ab
12 000 bis 17 000 Jugendliche pro Jahr verlassen dieses finanziell gut ausstaffierte Schweizer Schulsystem nach neun Schuljahren als funktionale Analphabeten. Sie können selbst aus kurzen Texten keine Informationen herausfiltern, sind nicht in der Lage, Informationen zu verknüpfen und einfache Schlussfolgerungen zu ziehen.
Von einem «Systemversagen» spricht Bildungsforscher Wolter. Wegen ihrer massiven Defizite im Lesen und Schreiben würden diese Schüler auch in anderen Fächern «komplett abhängen» und jahrelang einfach mitgeschleppt, ohne Lernfortschritte zu erzielen.
Kritik kommt auch aus Wirtschaftskreisen. Das schlechte Lese-Resultat der Schweizer Schüler im Pisa-Test sei «absolut unvereinbar mit dem Anspruch der Schweiz, eines der besten Bildungssysteme der Welt zu haben», sagt Rudolf Minsch, Geschäftsleitungsmitglied beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Für Schulabgänger, die kaum lesen und schreiben könnten, gebe es in der Schweiz zu wenig Jobs. Es sei daher zwingend, sagt Misch, «dass die Schulabgänger über genügend sprachliche Kompetenzen verfügen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können».
Genau das ist für funktionale Analphabeten schwierig. Mietverträge, Versicherungspolicen, Fahrplaninformationen, Behördenschreiben – das sind unüberwindliche Hürden im Alltag, wenn man kaum lesen kann. Manchmal treiben die Sprachdefizite einen Betroffenen fast in den Ruin – wie beim bekanntesten Steueropfer der Schweiz, Hilfsarbeiter Ernst Suter aus Dürnten ZH. Wegen seiner Leseschwäche reichte er keine Steuererklärungen ein und wurde von den Steuerbehörden eingeschätzt. Die Steuerrechnungen stiegen kontinuierlich an. Am Schluss schätzten die Behörden das Einkommen des Hilfsarbeiters auf ein Managerniveau von 480 000 Franken. Er zahlte widerspruchslos – und etwa eine Viertelmillion Franken zu viel. Die überrissenen Steuerrechnungen frassen nicht nur sein Jahreseinkommen auf, sondern auch seine Ersparnisse. Schliesslich lenkten die Steuerkommissäre ein und zahlten 250 000 Franken zurück.
Funktionale Analphabeten verlieren häufiger die Stelle
Rund 800 000 funktionale Analphabeten, auch Illettristen genannt, gibt es bei den 16- bis 65-Jährigen in der Schweiz. Fast die Hälfte ist hier geboren und hat die obligatorische Schulzeit absolviert. Für sie sind nicht nur Steuerformulare ein Albtraum. Auch Strafbefehle haben ihre Tücken. Wegen ihrer Leseschwierigkeiten verstehen die Betroffenen oft nicht, dass sie sich mit einer Einsprache wehren könnten – und verpassen die Eingabefrist. «Die formalistische Sprache der Strafbefehlsformulare», stellte der emeritierte Strafrechtsprofessor Martin Killias fest, «provoziert geradezu Missverständnisse.»
Funktionale Analphabeten haben es auch auf dem Arbeitsmarkt schwer. Sie sind in der Berufswahl eingeschränkt und verlieren häufiger die Stelle. Auf die Schulabgänger, die kaum lesen und schreiben können, wartet also ein düstere Zukunft.
Nach dem schlechten Pisa-Resultat forderten Lehrerverbände flugs mehr Geld. Aber wie soll es eine Gewähr geben, dass das etwas nützen würde, wenn die zweithöchsten Ausgaben in der OECD pro Schüler nicht reichen? «Dass so viele Schüler am Ende der Schulzeit kaum lesen und schreiben können, ist eine Schande für unsere Schulen», sagt Alain Pichard, Sekundarlehrer im Kanton Bern. Der «riesige Betreuungsapparat», der in den letzten Jahren aufgebaut worden sei, bringe offensichtlich nichts. «Wir brauchen nicht mehr Geld», sagt Pichard. «Aber man muss es anders einsetzen – für eine echte Bekämpfung des Illettrismus.»